Es ist nicht der schlechteste Zeitpunkt, als Maja Metzger im Jahr 2017 angesprochen wird. Ob sie sich vorstellen könne, beim WEISSEN RING mitzuarbeiten in Halle an der Saale. 47 Jahre ist sie damals alt. Der Sohn alt genug, es gibt etwas Platz in ihrem Leben, und sie sagt, dass sie sich das mal anschauen werde. Sich sinnvoll einzubringen, Menschen zu helfen, das höre sich alles ja nicht schlecht an.
Es war auch der Grund, warum sie damals, 1988, noch zu DDR-Zeiten, angefangen hatte, Jura zu studieren – in Leipzig, das lag näher an ihrem Elternhaus im Erzgebirge. Es gab damals in der DDR nur zwei Standorte, an denen man Jura studieren konnte, Leipzig und Halle. Dass sie dann später doch nach Halle kam, lag an der Liebe: Sie lernte in Leipzig ihren späteren Mann kennen. 1993 wurde sie in Halle Rechtsanwältin mit dem Schwerpunkt Familie und Soziales – dann war erst einmal das eigene Leben dran.
So sind es jetzt auch schon wieder 20 Jahre in dieser Stadt, die laut Frau Metzger „die graue Diva“ genannt wird, was verwundert, wenn man sie durchstreift. Das liege vielleicht daran, dass früher, in der DDR, die Leuna- und die Buna-Werke nicht weit entfernt lagen. Riesige Chemiekombinate zu Zeiten, als „Schadstoffemissionen“ zwar zu riechen und an den Häuserfassaden zu sehen waren, das Wort dafür aber noch nicht existierte. Was einzig und allein zählte, war die Produktion.
Viel Arbeit und viel Verantwortung
Zwanzig Jahre sind eine Zeit, in der man sich gut an die Stadt gewöhnen kann, in der man lebt. Heute ist Metzger Lokalpatriotin, sie geht, nein ging gerne zum Halleschen FC, was mehr mit Liebe zu tun haben muss als mit Fußball. Und sie hat zwei Päckchen Halloren-Kugeln mitgebracht zum Gesprächstermin, eine zuckersüße Spezialität aus Halle. Das verrät auch etwas über den Menschen Maja Metzger.
Sie schaut sich 2017 den WEISSEN RING an, und vielleicht ist es ein Wink des Schicksals, dass das Grundseminar im Augustinerkloster in Erfurt stattfindet. Eine „tolle Erfahrung“ sei das gewesen. Und wie sie das so erzählt, da strahlen ihre Augen, und die Stimme, die im Gespräch sonst eher zurückhaltend und ruhig, fast vorsichtig klingt, hebt sich um eine Nuance.
Irgendwann während des Gesprächs wird Frau Metzger sagen, dass sie nicht gerne im Mittelpunkt stehe, und so tritt sie auch auf – im positiven Sinn zurückhaltend. Das kommt ihr zugute, speziell bei der Arbeit, die in der ersten Zeit beim WEISSEN RING auf sie wartet. „Ich hatte das nicht erwartet, aber sehr viele der Fälle hatten einen sexuellen Hintergrund.“ Missbrauch, Vergewaltigungen, das werden ihre vorrangigen Beratungsfälle. Letztlich – und das ist ja auch logisch – war schon bei ihrer Anwerbung die Intention: Eine gestandene Frau, lebenserfahren, ist für die meist weiblichen Opfer die angenehmere Ansprechpartnerin. „Es ist viel Arbeit und viel Verantwortung“, sagt sie. „Und es ist eine dankbare Arbeit, in der man sieht, was man bewirken kann.“
Fassungslosigkeit nach den Schüssen
2018 wird sie Außenstellenleiterin in Halle. So hätte es weitergehen können mit dieser wichtigen Arbeit, mit der Verantwortung. Aber dann kommt etwas über Halle, was sich niemand hatte vorstellen können. Am 9. Oktober 2019 in der Mittagszeit. Frau Metzger geht an diesem Tag aus ihrem Büro in der Innenstadt zur Post, ob sie etwas aufgegeben oder abgeholt hat, weiß sie gar nicht mehr. Aber was sie noch weiß, ist, dass, als sie wieder im Büro ist und auf ihr Handy schaut, an die 50 Nachrichten darauf sind. Wo sie sei, ob es ihr gut gehe, solche Sachen. Sie schaut in den Rechner und liest dann etwas von Schüssen in der Hallenser Innenstadt, von einer unklaren Anzahl an Verdächtigen.
Sie ist fassungslos, sucht weiter nach Informationen, irgendwann steht da etwas von einem jungen Mann, der in einem Dönerladen erschossen worden sei. Und ihr Sohn? Der ist doch auch ein junger Mann? Der isst doch auch gerne Döner? Sie lässt die Jalousien herunter und bleibt, wie öffentlich dazu aufgerufen, in ihrem Büro.
Zwei Menschen sterben
Der Terror kommt an diesem Tag nach Halle in Form eines 27-jährigen Mannes, der bei seiner Mutter im Kinderzimmer lebt und der von dort aus eine Revolution starten will – gegen Muslime, Frauen und vor allem gegen Juden. Die Tat ist hinreichend an anderer Stelle beschrieben, ausgeführt mit selbstgebauten Waffen, die Baupläne dazu stammen aus dem Netz. Daher kommen auch sein ganzes kaputtes Weltbild und sein Hass – einen anderen Zugang zur Welt als seinen Computer hatte er nicht.
Zwei Menschen sterben an dem Tag, hätten seine selbstgebauten Waffen nicht so oft geklemmt, wäre die Zahl der Opfer deutlich höher gewesen. In sein eigentliches Ziel, die Hallenser Synagoge, kann er nicht vordringen. Er erschießt eine 40-jährige Frau vor der Synagoge, kurz darauf einen Mann in einem Dönerladen. Ein Ehepaar außerhalb von Halle wird auf der Flucht des Täters von ihm angeschossen. Neun versuchte Morde werden ihm später vor Gericht vorgeworfen, er wird zu lebenslänglicher Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Terrorattacken wie diese werden in Präventions- und Notfallplänen als Großschadensereignisse eingestuft. „Pläne, wie damit umzugehen ist, haben wir ja in der Schublade“, sagt Frau Metzger heute. Bis zu diesem Tag im Oktober 2019 hatte sie aber keine Vorstellung davon, was ein solches „Großschadensereignis“ alles auslösen kann.
Am nächsten Morgen kommen die Mitarbeiter des WEISSEN RINGS in der Außenstelle zusammen, die gleichzeitig auch das Landesbüro ist. Hier, vor der Glasscheibe, stand am Tag des Anschlags noch ein Polizist mit einer Maschinenpistole.
Eine Stadt im Ausnahmezustand
Maja Metzger trägt das Mobiltelefon bei sich, an dem sich Opfer melden können. Zunächst rufen viele Eltern an, die ihre Kinder nicht erreichen können – Halle ist eine Studentenstadt. Dazwischen Menschen aus der Stadt, die einfach mal reden wollen, über Ängste oder Sorgen. „So ein Angriff aus dem Nichts erschüttert Menschen in ihren Grundfesten“, sagt Frau Metzger. Die übliche Sorglosigkeit, die so alltäglich ist, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen, ist von heute auf morgen weg. An ihre Stelle tritt das Gefühl: „Ich kann auf die Straße gehen und komme vielleicht nicht wieder nach Hause.“ Das mache etwas mit den Menschen, ob sie Zeuge wurden oder nicht.
So etwas sei auch nach ein paar Wochen oder Monaten nicht vorbei: „Der Ausnahmezustand hat hier schon ein halbes Jahr gedauert, viele wollten das erst einmal mit sich selbst ausmachen.“ Dann hätten sie sich doch gemeldet, telefonisch. Oder sie kamen einfach vorbei.
Insgesamt werden 36 Opfer betreut, auch Angehörige von Opfern. Der Außenstelle Halle kommen damals zwei Dinge zugute: Einerseits, dass ihr Sitz in der Innenstadt auch der Sitz des Landesverbandes ist. So gib es eine Anlaufstelle, einen großen Raum, einen kleinen Raum, Platz für die Arbeit, die getan werden muss. „Einen Raum, in dem wir uns besprechen können und wo das Besprochene bleiben kann.“
Andererseits haben sie in einer Studentenstadt wie Halle, viele ehrenamtliche Helfer. Wer Metzger heute fragt, was eine Außenstelle aus einem Ereignis wie diesem lernen kann, erhält zur Antwort, dass das, was getan werden muss, auf möglichst viele Schultern verteilt werden müsse. Und was sie selbst gelernt hat? „Dass es gut ist, etwas tun zu können und nicht hilflos daneben zu stehen.“
Die Stadt verändert sich nach dem Anschlag, in den Tagen danach ist das am meisten zu spüren. Menschen rücken näher zusammen, sprechen oder schweigen gemeinsam. Die Zusammenarbeit des WEISSEN RINGS mit den Behörden sei damals enger geworden. Spenden, die in der Stadt gesammelt werden, gehen an die Opferhilfeorganisation und werden weitergereicht: rund 31.000 Euro. Ein Ehepaar, niedergeschossen vom Täter, wird vor Gericht aussagen, dass die einzige Institution, die ihm die ganze Zeit zur Seite gestanden habe, der WEISSE RING war.
Verlust der Sorglosigkeit
Und dennoch: Die Hilfe, das Näherrücken, der Zusammenhalt danach können nichts ungeschehen machen: nicht die Toten, nicht die Verletzten, nicht die Geschockten und die Traumatisierten. Ebenso wenig den Verlust der Sorglosigkeit und den Hass, der sich damals Bahn bricht und bis heute noch bisweilen nachwirkt: Der Täter filmt damals seine Taten und stellt sie live ins Netz. Auch Frau Metzger, die das Geschehen damals selber gar nicht miterlebt, wird es später doch noch sehen: Dieses Video wird ihr kommentarlos auf WhatsApp zugeschickt, fünf, sechs Mal kommt es bei ihr an. Wie oft es wohl andere bekommen haben?
Heute, im Frühjahr 2021, sitzt Frau Metzger in der Außenstelle Halle, der Ausnahmezustand ist vorbei, an den Tatorten erinnern Tafeln an die Tat, hier und da in der Stadt steht „Niemals vergessen Kevin und Jana“ auf Stromkästen gesprüht. Das Unfassbare ist und bleibt unfassbar. Und es lässt so viele andere Dinge kleiner wirken: Dass wegen der Pandemie die Friseure geschlossen sind, ist für Maja Metzger zum Beispiel ziemlich irrelevant. Dass sie nicht zum Halleschen FC kann, stört sie dann doch schon ein bisschen mehr – aber nur ein bisschen. Es gibt, das hat die Zeit gezeigt, wirklich Schlimmeres.
Text: Tobias Großekemper
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